Die Last Mit der Fingerschlinge

Quer durch alle Bogenarten sehe ich immer wieder Schützen, die ohne Bogen- oder Fingerschlinge schießen. Die Argumentationslinien reichen von »ich kann das nicht mit Schlinge« bis zu »das macht man nicht beim Langbogen«.
Ich möchte darlegen, warum ich der Ansicht bin, dass alle Bogenarten mit Fingerschlinge geschossen werden sollten, und zwar von der ersten Trainingsstunde an. Ich werde versuchen, meine Meinung
zu begründen. Dennoch bleibt es nur eine Meinung und jeder Leser ist eingeladen, eine andere zu haben.
Was wir eigentlich wollen
Bogensport ist einfache Physik. Newtonsche Kraftgesezte. Befinden sich Bogen und Pfeil in Ruhe, so heben sich alle wirkenden Kräfte gerade auf, sonst würde irgendwas igendwohin beschleunigt (F = ma). Lösen wir den Schuss, dann wollen wir ja auch genau das. Nur halt nicht irgendwas irgendwohin,
sondern den Pfeil zum Gold.

Abb 1a zeigt dabei einen idealisierten Kraftverlauf im Vollauszug. Es treten genau zwei Kräfte auf: die Zugkraft, welche die Zughand auf die Sehne ausübt und die Gegenkraft der Bogenhand auf den Bogen. Alle Kräfte verlaufen also entlang der Pfeilachse wie es sein sollte.
1b zeigt dagegen einen nicht idealen Vollauszug: es wirken Torsionskräfte auf Griff und Sehne. Auch diese müssen sich im Anker gerade aufheben, sonst wäre der Bogen nicht in Ruhe. Lösen wir den Schuss (1c), so fällt die mit der Zughand aufgebrachte Torsion weg. Es bleibt die Torsionskraft
am Griff übrig und der Bogen beginnt augenblicklich, sich zu drehen. Mist.
Der Griff als Drehgelenk
Kleines Gedankenexperiment: statt den Bogen in der Hand zu halten, befestigen wir am Griff ein Drehgelenk. Was würde nun passieren, wenn die Zughand beim Auszug Torsionskräfte erzeugt? Der Bogen würde sich unmittelbar drehen, da es nichts gibt, was die Drehung verhindern könnte.
Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass im Vollauszug keine Torsionskräfte mehr auftreten können. Genau da wollen wir hin – mit einem richtigen Griff. Bei den Bogenarten wird dieser
leicht unterschiedlich ausgeführt (z.B. ist der Griff beim Compound flacher als beim Recurve), dennoch sind die Anforderungen gleich: keine Quer- oder Torsionskräfte auf den Bogen ausüben

Die Bogensportler sprechen dabei vom Druckpunkt, also dem Punkt, auf dem der Bogen Druck auf die Hand ausübt.
Abb 2 zeigt eine übliche Position dieses Punktes auf dem Daumenballen.
Das Titelbild ganz oben zeigt Sabine Neumann im Vollauszug. Der Bogen liegt auf dem Daumenballen. Man erkennt darüber hinaus, dass der Bogen nicht gehalten wird – die Finger sind neben dem Griff locker eingerollt.
Das Schnappen nach dem Bogen
Wir sind fast am Ziel. Im Moment des Lösens fällt die Zugkraft plötzlich weg und es bleibt nur die Gegenkraft, also die Kraft der Bogenhand auf den Griff, übrig. Der Bogen beschleunigt
nach vorne. Nach vorne ist eigentlich nicht schlimm, solange der Bogen Richtung Gold fliegt. Warum? Zum einen folgt der Bogen damit der Richtung des Pfeils, zum anderen ist die Beschleunigung des Bogens Größenordnungen kleiner als die des Pfeils. Nun muss aber der teure Bogen daran gehindert werden, scheppernd zu Boden zu fallen. Tragen Schützen keine Schlinge oder sind den Umgang nicht gewohnt, schnappen die Finger zu. Allerdings ist es beinahe unmöglich, den Bogen einfach in der Luft zu stoppen ohne weitere Störungen auszuüben.
Daher ist es besser, den Bogen einfach fliegen zu lassen, was aber natürlich nur mit einer Schlinge geht.
Nach ein paar Millisekunden ist der Spuk dann vorbei: der Pfeil hat den Bogen verlassen,
der Bogen fliegt in aller Ruhe in die Schlinge und wird von dieser sicher gefangen. Abb 3 zeigt den Griff an einem Compound-Bogen vor und Abb 4 nach dem Schuss. Der Bogen hängt in der Schlinge. Warum mein Handgelenk abgeknickt ist und was mein Zeigefinger da auf dem Griff macht? Darum kümmern wir uns ein anderes mal.


Fazit
Es braucht intensives Training, um eine Bewegung zu automatisieren. Es braucht noch wesentlich mehr Anstrengung, falsche Engramme wieder zu löschen. Zumal diese Arbeit unglaublich frustrierend ist. Ich kann daher nur raten, gleich von Anfang an mit Schlinge zu schießen. Und ich möchte auch noch mal an die Blank- und Langbogenschützen appellieren, mit Schlinge zu schießen.
Aber: ein falscher Griff kann genau wie eine falsche Fingerposition auf der Sehne ernste Probleme in den Händen hervorrufen. Bitte sprecht mit eurer Trainerin oder eurem Trainer bevor ihr mit der Arbeit beginnt.
Literatur
Haidn, Weineck, Haidn-Tschalova – Bogenschießen – ISBN 978-3-938509-74-6 (S. 388ff)
Lee, de Bondt – Total Archery – ISBN 978-8995611906 (S. 38ff)